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STAN GETZ

Das Vorbild: Lester Young

"You're my singer."
Lester Young kurz vor seinem Tod zu Stan Getz

Stan Getz erzählte gern eine Anekdote, die sich auf einer JATP-Tour zugetragen haben soll, bei der etliche Saxophonisten beteiligt waren - unter anderen Lester Young und er selbst. "Wir saßen im Bus auf der Fahrt zum letzten Konzert. Wir waren alle müde und schliefen nahezu. Pres saß am Durchgang und döste, als einer der Saxophonisten so unruhig wurde, daß er sein Horn herausnahm und anfing, den Gang auf und ab zu gehen und dabei alle möglichen Bop-Licks zu spielen, die ihm nur einfielen. Niemand kümmerte sich um ihn, so daß er schließlich sein Horn an Lesters Ohr hielt und etwa fünf Minuten lang die wildesten Charlie-Parker-Läufe spielte. Dann hörte er auf und fragte: 'Hey, Pres, wie findest du das?' Und Pres antwortete mit halb geschlossenen Augen und einem Lächeln: 'Yeah, man... but can you sing me a song?'"

Der Song als ästhetisches Gebilde, als künstlerische Einheit: das war die Botschaft Lester Youngs, die Stan Getz vernahm und beherzigte. Mit der Überzeugung, daß eine Komposition mehr sei als ein Harmoniengerüst und ein "Rohmaterial" für den Solisten, hatte sich Lester Young aus der Tradition des Jazz-Saxophons ausgeklinkt und war zum "lyrischen" Einzelgänger geworden. Ein Song blieb für ihn eine gesungene Melodie, auch wenn er improvisierte, und melodiebetont und den Lyrics verpflichtet nahm er sich ihrer an. Dem Jazz-Saxophon erschloß Lester Young damit nicht nur ein Reich technischer Raffinessen, das den modernen Jazz inspirieren sollte, sondern vor allem einen neuen Sound: voller sanfter Schattierungen, bittersüß und gebrochen, unaggressiv und gesanglich, trocken und leicht.

Diesen Sound hat Stan Getz schon früh nachgeahmt und im Lauf der Zeit in einer Ausschließlichkeit perfektioniert, die zu seinem Markenzeichen wurde. Einen Song zu singen - ihm Seele zu geben, emotionalen Nachhall, melodischen Klang: In diesem Ziel waren sie sich einig, Lester Young und Stan Getz. Doch dann beginnen auch schon die Unterschiede, die für beide bezeichnend sind. Lester Youngs Romantizismus - wenn man seine Haltung so nennen darf - war im besten Sinne naiv. Wenn er auf dem Saxophon "sang", so tat er es ehrlich, mit spontaner Gefühlsregung. In den Worten seines Verehrers Stan Getz: "er trug das Herz auf der Zunge, und sobald er einsetzte, zeigte er, wie sehr er ein menschliches Wesen war. Er spielte es einfach aus sich heraus. Es gab keinen Haß in seiner Musik, obwohl das eine sehr rassistische Zeit war." Lester Youngs emotionale Offenheit kannte keine Grenzen. Wenn ihm danach war, konnte er sentimental werden oder sarkastisch. Als Mensch friedliebend, schüchtern, ein wenig nervös, suchte Lester Young in der Musik ein Ventil für seine Persönlichkeit.

Bei Stan Getz verkehren sich die Vorzeichen. Was Lester Young auf "natürliche" Weise mitteilt, wird bei ihm zur kopfgesteuerten Kunstübung, hinter der er die eigene Person versteckt. Stan Getz kannte sehr wohl die Grenze zur Sentimentalität und hat sie als Improvisator nie überschritten, auch wenn manches ihm angediente Arrangement in Kitsch ertrank. Er ärgerte sich über Lesters Humor und wünschte sich zugleich dessen menschliche Wärme, die die Quelle dieses Humors war. Stans beste Kunstwerke entstanden aus unpersönlichem Perfektionismus. Sie erinnern an kristalline Gebilde, die organische Formen nachahmen und übertreffen, und Stans kompetentester Kritiker, Michael James, verglich sie mit der Schönheit von Asteroiden im leeren Weltall.

Wo Lester Young seine Emotionen zur Schau stellt, stellt Stan Getz Emotionalität nur dar. In einem modernen Sinn verstanden, war Getz damit zweifellos der größere Künstler. Seine Kunst ging so weit, daß ihm die ehrgeizige, verbissene Bewußtheit seines Bemühens endlich zur zweiten Natur wurde und er über seine Kunstmittel so souverän verfügte, als kämen sie aus ihm selbst. Auf diese Weise erreichte er eine Art vermittelter Spontaneität, die schubweise in seinem Schaffen Fortschritte machte: in den späten 50er Jahren, den frühen 70ern, den 80ern. Da entstanden jene Aufnahmen, deren Qualität den Streit zwischen "echt" und "unecht" sinnlos macht.

Aber auch dort, wo Getz sich bewußt diszipliniert, seine Phrasen "cool" plant, Leidenschaftliches nur in Szene setzt, Melodie und Sound kultiviert - vor allem in der Zeit vor der Seattle-Krise -, läßt er die bloße Geste oft genug hinter sich. Die Gefühle, die Lester Young durch seine Direktheit erregt, steuert Getz da ohne den Umweg über eigene Emotionen an. Er perfektioniert schlicht die Kunstmittel selbst, die diese Effekte hervorbringen: die Balance aus gehetzten oder retardierenden, mit oder über dem beat gespielten, sachlichen oder melodisch gerundeten Läufen. Ein Nervenkünstler. Ein Skulpteur der Töne. Wenn Lester Young expressiv war, so war Stan Getz - Expressionist.

© 1994 Oreos-Verlag

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